Von den Arabern hatten die europäischen Seefahrer im 15. Jahrhundert gelernt, nicht nur den Polarstern, sondern auch die Sonne «zu schiessen» und aufgrund des Sextant-Winkels überall auf der Welt die geografische Breite auszurechnen. Die Positionsbestimmung Nord-Süd war also gelöst.
Bis ihnen die Orientierung auch auf der West-Ost-Achse gelang, mussten sich die Seefahrer bis Mitte des 18. Jahrhunderts gedulden. Um die geografische Länge zu bestimmen, muss man nämlich die Zeit mitnehmen. Man braucht eine bordtaugliche Uhr. Die Erde dreht sich bekanntlich in 24 Stunden einmal um ihre Achse. Ein Punkt auf dem Äquator legt in dieser Zeit also 40’000 Kilometer zurück. Macht pro Stunde 1'666 Kilometer oder pro Minute 28 Kilometer. Erst auf diese Distanz ist Land überhaupt zu erkennen. Nur ein Navigator, dessen Uhr auf die Minute genau lief, fand demnach seine Insel, ein Anderer nicht. Pendeluhren taugten auf schwankenden Schiffen wenig, und bei den dannzumal gebräuchlichen Sanduhren kumulierten sich die Fehler. Die britische Admiralität setzte deshalb ein Preisgeld von sagenhaften 20'000 Pfund für die Lösung des Längenproblems aus. 1773 schliesslich konstruierte der Uhrmacher John Harrison einen seetauglichen Chronometer, der nach einer Atlantiküberquerung nur gerade fünf Sekunden hinter der Zeit her hinkte. Heute liefert ein GPS genau zwei Zahlen: die geografische Breite und die geografische Länge. Von John Harrison's Uhr bis zum GPS – oder gar zur elektronischen Seekarte, die Position und Kurs gleich auch grafisch abbildet – blieb aber ein weiter Weg. Noch in den 1950er Jahren verzichtete der berühmte französische Einhandsegler Bernard Moitessier aus Geldnot auf den kostspieligen Schiffschronometer. Der «voilier-philosophe» verliess sich bei der Längenbestimmung auf die Seevögel. Ihr lärmendes Gechrei, so dachte er, würde ihn schon rechtzeitig vor drohenden Küsten warnen. Bis er eines Nachts nicht vom Geschrei der Seevögel, sondern von donnernder Brandung aus dem Schlaf gerissen wurde. Sekunden später zerschellte seine Jacht auf einem Riff. Till Linke Im holländischen Breskens, unserem vormaligen Winterlager, kursiert die Legende einer Motorjacht, die einst in sattem Tempo in die Marina rauschte. Kein Mensch war an Bord, der Eigner war irgendwo im Englischen Kanal über Bord gefallen. Sein schwimmendes Wohnzimmer hatte sich brav von digitalem Wegpunkt zu Wegpunkt gehangelt, bis es am heimischen Liegeplatz ungebremst in den Steg krachte.
Dank moderner Elektronik ist das einstige Kunsthandwerk der Navigation so verführerisch einfach geworden, dass es zur Nachlässigkeit verleitet. Die meisten Jachten sind mit an GPS gekoppelten Autopiloten ausgerüstet, die es dem Schiff ermöglicht, selbstständig einer vorprogrammierten Route zu folgen. Bis ins 15. Jahrhundert orientierten sich die europäischen Seefahrer am Polarstern. Der Gnade des Zufalls verdanken wir es, dass dieser in der gedachten Verlängerung der Erdachse liegt. Der Polarstern gibt Auskunft über die geografische Breite, sagt dem Seemann also, wie weit südlich oder nördlich er sich befindet. Der Navigator braucht dazu bloss mit dem Sextanten den Winkel zwischen Stern und Horizont zu messen. Die Breitenbestimmung via Polarstern funktionierte allerdings nur in nördlichen Gefilden. Je weiter die europäischen Seefahrer gen Süden vorstiessen, desto tiefer stand der Polarstern am Firmament. Und spätestens bei den Kanarischen war er ohnehin nicht mehr zu sehen, weil der Dunst sein Flimmern verschluckte. Die arabischen Seefahrer waren den Europäern weit voraus. Sie orientierten sich schon seit frühster Zeit an der Sonne. Sie massen den mittäglichen Winkel zwischen Sonne und Horizont und kalkulierten daraus die Breite. Zu diesem Zweck benutzten sie komplexe astronomische Tabellen. Nach der Reconquista im 15 Jahrhundert gelangten diese Tabellen in die Hände der Europäer. Dies war vielleicht der entscheidendste Technologietransfer in der Geschichte des Westens. Denn danach erkundeten Vasco da Gama, Magellan und Kolumbus mithilfe arabischen Know-Hows die ganze Welt und legten so den Grundstein zur westlichen Dominanz. Warum die arabischen Seefahrer ihre uralte navigatorische Überlegenheit nicht schon viel früher ausschöpften, warum sie zuhause blieben und nicht ins Unbekannte vorstiessen – das zählt für mich zu einem der grossen Rätsel der Kulturgeschichte. Till Linke Island-Törns
Wir starten am 18. Mai 2019 in Reykjavik und folgen der zerklüfteten Fjordlandschaft entlang Islands Westküste in Richtung Norden, wobei wir den spektakulären Snaefellsjökur-Gletscher passieren. Ob wir dann ausgiebig den von Hunderten von Inselchen übersäten Bredafjord unter Segeln erkunden und uns Zeit für Wanderungen und Kajaktouren von der vor Anker liegenden «Passage» aus nehmen, oder ob wir – von günstigen Winden getragen – weiter nördlich bis Isafjördur vorstossen, machen wir vom Wetter und von den Wünschen der Crew abhängig. Start- und Zielort der Wochen zwei, drei und vier überlassen wir dem Wettergott. Es werden entweder Olavsvik, Isafjördur oder Akureryri sein, die sich von Reykjavik leicht mit einer Fahrt per Mietwagen oder Bus durch die wunderschöne Landschaft Islands erreichen lassen. Wir beschränken uns somit auf die West- und die Nordküste, die im Unterschied zur Südküste Islands, welche flach und seicht ausläuft, von zerklüfteten Fjorden gesäumt und deswegen nicht nur landschaftlich reizvoller sind, sondern bei stürmischem Wetter immer auch eine geschützte Bucht oder einen Fluchthafen bieten. Die fünfte Woche vom 15. bis 22. Juni führt von einem Ort an der Nordküste – entweder Husavik oder Akureyri, einer beliebten Whalewatching-Destination – zurück nach Isafjördur, wo wir eine Woche Pause für Wartungsarbeiten einschalten, bevor wir zu unserer Expedition nach Ostgrönland aufbrechen. Wer möchte, kann diesen Hafenaufenthalt an Bord verbringen und Kajaktouren oder Landausflüge unternehmen. Das System der flexiblen Start- und Zielhäfen erlaubt uns, viel besser auf das Wetter einzugehen und vorteilhafte Winde zu nutzen. Und es erspart uns mühseliges und zeitraubendes Aufkreuzen. Zudem müssen wir keine zeitliche Sicherheitsreserve einplanen, um rechtzeitig im Zielhafen einzutreffen. Ihr könnt eine beliebige Anzahl Wochen zwischen einer und fünf buchen. Ostgrönland-Expedition Während mittlerweile jedes Jahr Dutzenden von Segelyachten die Westküste Grönlands anlaufen, wagt sich kaum jemand an die von Fjorden zerfurchte und mit gerade mal 2000 Seelen dünn besiedelte Ostküste. Die Gründe sind vielfältig. Erstens ist diese Region auch heute noch kaum, bestenfalls mangelhaft kartografiert. Dank GPS wissen wir zwar jederzeit ganz genau, wo wo wir uns befinden. Das hilft aber wenig, wenn wir nur erahnen können, wo die Küste verläuft. 2016 waren wir im Scoresby-Sund meilenweit über Berge und Hügel gesegelt – zumindest gemäss den dänischen Seekarten und dem davon abgekupferten elektronischen Kartenmaterial. Zweitens strömen jede Sekunde 150’000 Tonnen Packeis durch die Denmark-Strait zwischen Island und Ostgrönland Richtung Süden. Die Ausdehnung und Dichte dieses Eisgürtels variiert von Jahr zu Jahr, und selbst für eine robuste Segelyacht wie die «Passage» ist dieser Gürtel erst im Spätsommer passierbar. Drittens produzieren die von Grönlands immensem Eispanzer gespiesenen Gletscher Unmengen an Eisbergen, die sich durch die Fjorde an die Küste ergiessen. Diese Törns haben somit Expeditionscharakter, bieten aber all jenen, die eine Reise ans Ende der Welt antreten wollen, Szenerien von unbeschreiblicher Schönheit. Die drei Törns Isafjördur-Kulusuk-Isafjördur lassen sich einzeln oder zusammenhängend buchen. Für die rund 350 Seemeilen von Isafjördur bis Kulusuk benötigen wir zwischen zwei und drei Tagen, es wird also auch durch die – im Sommer nicht existierende – Nacht gesegelt. Je nach Dichte des Packeises werden wir zunächst einen südlicheren Fjord anlaufen, z.B. den Sehested-Fjord bei Llivertuaq (62°57'N/041°35'W). Der einwöchige Törn Kulusuk-Kulusuk wird uns in das von Wellengang geschützte Sermilik-Fjordsystem führen und ist somit auch für Seglerinnen und Segler geeignet, die sonst unter Seekrankheit leiden. Falls das Packeis dies erlaubt, werden wir auf dem Törn Kulusuk-Isafjördur auch noch weiter nördlich liegende Fjorde, vielleicht sogar den mächtigen Kangerlussuaq-Fjord befahren. Von Isafjördur bis Scoresby Sound sind es rund 300 Seemeilen, also etwa zwei Tage, von dort nach Reykjavik nochmals rund 450 Seemeilen, also etwa drei Tage. Der verzweigte Scoresby Sound ist das grösste Fjordsystem weltweit und reicht über 200 Kilometer ins Inland hinein. Er wird häufiger von Walen als von Menschen besucht. Er bietet traumhaftes, aber auch sehr anspruchsvolles Segeln in seinen Seitenarmen, die zumeist von schroffen Bergketten gesäumt sind, deren Gipfel bis zu 2000 ü. M. Metern reichen. Wir werden genügend Zeit für Kajaktouren zwischen Eisbergen und und Wanderungen an Land haben. Und falls – einmal mehr – das Packeis dies erlaubt, werden wir versuchen, auch den Kong Oscar-Fjord weiter nördlich zu erkunden. Matterhorn, Grand Canyon, Ayer's Rock – sie alle sind spektakulär, aber zu Touristenattraktionen geworden. Sie zu besuchen, ist längst keine Reise ans Ende der Welt mehr. Dieses Schicksal wird auch die Eis- und Felslandschaft Grönlands ereilen. Der Jakobsgletscher in der westgrönländischen Diskobucht beispielsweise, der täglich 50 bis 70 Millionen Tonnen Eisberge produziert – Ungetüme, die mit der Strömung nach Süden treiben, jahrelang und oft so weit, dass sie einst Transatlantik-Liner wie die «Titanic» versenkten –, dieser Gletscher kalbt inzwischen nicht mehr in arktischer Stille vor sich hin, sondern tut dies unter scharfer Beobachtung. Sein kanonendonnerlautes Bersten und Krachen wird heute von unzähligen Handy-, Foto- und Videokameras festgehalten; das nahe Städtchen Ilulissat wird mehrmals täglich angeflogen. Im April und Mai sind wir mit dem ehemaligen Whitbread-Racer «SY Passage» die norwegische Küste hochgekreuzt, haben in entlegenen Fjorden geankert und die vielgerühmten Lofoten besichtigt. Wunderschön – doch immer, wenn wir eine Huk passierten und sich der Blick auf die schmucken Häuschen am Ufer öffnete, wähnte ich mich am Greifensee mit Sicht auf die Agglomeration von Birmensdorf. Und dann – zwei Tage, nachdem wir von Tromsø mit wechselhaften Winden, die dauerndes Trimmen und Segelwechseln erforderten, Richtung Norden geglitten waren und sich die norwegische Küste schon längst im Dunst der Barentsee aufgelöst hatte – dann tauchte Bjornoya, die Bäreninsel, aus dem Nebel auf. Bjornoya liegt auf ungefähr 74° 30' Nord und 19° 00' Ost und damit etwa gleich hoch wie der nördlichste Punkt der Westpassage, die um die Nordspitze des amerikanischen Kontinents herum führt. Nüchtern betrachtet ist die Bäreninsel nichts Besonders: ein paar Felsklippen, die aus dem dunklen Meer ragen, von der Brandung zerfressen und von Abertausenden von Möven vollgemacht. Niemals wird ein Investor auf die Idee kommen, hier einen Hotelkasten hinzupflanzen. Und dennoch: Hat man alle Widrigkeiten der Barentsee – Baumstämme, die russischen Flössern entwischt sind; Buckel-Wale, die sich nicht die Mühe machen, einem Segelschiff auszuweichen; im Frühjahr vielleicht auch Growler, Eisbergstücke von der Grösse eines Autos und dem Gewicht eines Lastwagens –, hat man also diese Widrigkeiten durch eine glückliche Fügung umschifft und dabei nicht vergessen, den Himmel skeptisch im Auge zu behalten – denn die Barentsee als bevorzugte Schiffsautobahn wird von üblen Tiefs aus Island heimgesucht, und heute noch verschlingen die Weltmeere bekanntlich jede Woche zwei bis drei grosse Frachtschiffe –, wird man also wie wir von all dieser Unbill verschont und gleitet bei freundlichen Winden zu den Klängen von Hendrix’ «Rainy Day, Dream Away» mit einem Glas Single Malt in der Hand über die versunkenen Gebeine der Opfer jener Seeschlacht hinweg, die 1942 hier zwischen deutschen und britischen Kanonenschiffen stattfand…
…und dann taucht Bjornoya, die Bäreninsel, auf, einsam und verlassen, von Legenden umrankt, welche von Walfängern erzählen, die einst dort strandeten oder in den furchtbaren Winterstürmen der Barentsee zerschellten, Geschichten auch von einem jähzornigen Deutschen, der in den 30er Jahren die Insel besetzt hielt, Walrosstran einkochte und jedes Schiff, das in seinem Revier ankern wollte, mit der Flinte begrüsste – dann… ja, was dann? Wie soll man das Gefühl beschreiben, das sich beim Anblick Bjornoyas einstellt? Es ist vielleicht nicht ganz so stark wie das Gefühl des Junkies, der sich nach langem Darben endlich wieder einen Schuss setzt, doch eines ist man sich nun im Klaren: Birmensdorf ist weit weg. Die Bäreninsel ist das Tor zu einer anderen Welt – ob Himmel oder Hölle, das wird sich noch herausstellen. Heute, zwei Monate später, kann ich sagen: Der Trip war beides. Die Hölle lasse ich vorerst einmal weg. Sie wird Thema eines späteren Blogs sein, in dem ich auch einige Episoden zum Besten geben wurde, die nicht zu meinem Ruhm gereichen. So zum Beispiel der Versuch, den 80. Breitengrad zu überqueren und auf diese Weise (zumindest für ein paar Tage) das nördlichste Segelboot der Welt zu sein – was uns zwar gelang, denn wir rauschten unter vollen Segeln mit neun Knoten Richtung Nordpol über die imaginäre, einzig auf dem GPS sichtbare Linie… aber wozu? Zum Aufschneiden, zuhause in Birmensdorf? Dort oben gab es nichts zu sehen. Wir hätten besser mehr Zeit in den nördlichen Fjorden von Spitzbergen verbracht. Oder wären noch weiter bis zur Packeisgrenze vorgestossen. Doch dazu reichte die Zeit nicht. Die Crewmitglieder hatten ihre Flüge gebucht, Job und Karriere warteten, und die Kleinen sehnten sich nach ihrem Papa oder ihrer Mama. Birmensdorf hatte uns im hohen Norden wieder eingeholt. |
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